25. Oktober 2022
Artikel von Sarah Bioly

Die Energieversorgung der Zukunft vorhersagen

Wie stark die Sonne scheint und wie schnell der Wind weht, können wir nicht steuern. Um erneuerbare Energien besser zu nutzen, müssen wir jedoch berechnen können, wie Wetter und Klima sich verhalten. Die Modelle dazu entwickelt Nicole Ludwig, Expertin für maschinelles Lernen und nachhaltige Energien.

Für Außenstehende wirken Vorhersagen über das Wetter von morgen manchmal wie die Behauptungen eines Wahrsagers über die Zukunft. Statt Regen gibt es Sonne. Statt blauem Himmel Hagel. Wie soll man sich da auf Vorhersagen verlassen, wenn auch das Gegenteil eintreten kann? Schwierig wird das zum Beispiel dann, wenn es um die Frage geht: An welche Standorte baue ich eine Windkraftanlage, sodass sie auch in dreißig Jahren noch Strom liefert? 

Nicole Ludwig, 29, Gruppenleiterin am Exzellenzcluster „Maschinelles Lernen“ der Universität Tübingen, forscht zu nachhaltiger Energie. Mit ihrem Team entwickelt sie Modelle, welche mithilfe von maschinellem Lernen zum Beispiel die Versorgung mit Wind- und Solarenergie vorhersagen. Sie sitzt in ihrem Büro, das nur ein Whiteboard mit mathematischen Gleichungen schmückt, und erklärt: „Am Ende haben wir ein Energienetz, wo gleich viel rein wie raus muss.“ Um das optimal zu steuern, müssen wir beide Seiten kennen: Die Nachfrageseite, also die der Verbraucher, und die Erzeugungsseite, was also zum Beispiel bei den Windturbinen passiert. Im Moment liegt Ludwigs Fokus auf der Stromerzeugungsseite. 

Berechnungen als Grundlage für politische Entscheidungen

Sie greift nach ihrem Tablet und zeichnet mit ihrem Finger ein Raster aus dicken roten Linien. „Stellen wir uns vor, dieses Raster überziehe die Welt“, sagt sie. „Im Klimamodell haben wir für jeden Knotenpunkt Daten, aber für die weiße Fläche dazwischen können wir sie nur annähernd berechnen.“ Je nachdem, ob dort eine Stadt, ein Wald oder eine Wiese liegt, ändert sich beispielsweise die Windgeschwindigkeit. Und je nachdem wie das Klima in Zukunft sein wird, verändert sich auch der Wald. Meist fließen zwischen zwanzig und hundert Variablen in die Berechnungen der Algorithmen mit ein. Feste Variablen wie die Höhe der Windturbine und die Größe der Rotorblätter sowie sich verändernde wie das Wetter oder das Klima. Die Aufgabe, die sich Ludwig und ihr Team gesetzt haben, ist nun, herauszufinden, welche Modelle mit welchen Variablen am besten die Zukunft vorhersagen. Sie sagt: „Wir wollen die Spannweite von dem, was passieren könnte, so klein wie möglich halten.“ Denn dann könnten die Berechnungen als Grundlage für politische Entscheidungen herangezogen werden. An vielen Orten in Deutschland, wo um jede Windkraftanlage gerungen wird, ist es wichtig, sich vor allem dort die Mühe zu machen, eine Anlage durchzusetzen, wo es sich von den Gegebenheiten her tatsächlich lohnt.  

Ludwig entwickelt auf Wetter- und Klimadaten basierende Modelle, um die zukünftige Energieversorgung besser vorhersagen zu können. © ELIA  SCHMID / UNIVERSITÄT TÜBINGEN

Als Ludwig sich vor zwei Jahren beim Exzellenzcluster bewarb, brachte sie das Thema „nachhaltige Energie“ mit. Sie fand schon immer Themen interessant, die nah an der Gesellschaft und der Politik sind. Im Studium war sie fasziniert von der Idee, mit Statistik Aussagen über die Gesellschaft treffen zu können. „Es fühlte sich sinnvoll an“, sagt sie. Denn nur wenn man die Probleme kennt, kann man daran arbeiten, sie zu lösen.  

Dabei mochte sie den Matheunterricht in der Schule nie besonders, sondern bevorzugte Sprachen. Heute sagt sie: „Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass man sowohl Sprachen als auch Naturwissenschaften können kann.“ Sie studierte schließlich Volkswirtschaftslehre (VWL), machte ihren Master im Fach Information Systems and Network Economics, ihren Doktor in Informatik am Karlsruher Institut für Technologie. In ihrem Büro sagt sie: „In Kopfrechnen bin ich immer noch eine Niete, aber die tatsächliche Mathematik, die kann ich.“

Die Politik muss Anreize setzen  

In ihrer Bachelorarbeit beschäftigte sie sich das erste Mal mit Energiepreisen. Während ihrer Dissertation dann mit erneuerbaren Energiesystemen – allerdings von der Nachfrageseite her. Die Idee dahinter: Dann Strom zu verbrauchen, wenn er erzeugt werden kann, also zum Beispiel die Waschmaschine einzuschalten, wenn die Sonne scheint. Bei einem einzelnen Haushalt hätte die Umstellung der Energienutzung zwar keinen nennenswerten Effekt auf den Gesamtverbrauch in Deutschland, bei einem produzierenden Großkonzern allerdings schon. Mit Modellen des maschinellen Lernens berechnete Ludwig anhand einer Forschungsfabrik für Elektronikteile, wie Unternehmen ihre Produktion umlagern müssten, damit es eine Wirkung gäbe – und stellte fest: Es waren nur zwei oder drei Prozesse, die man um zehn bis dreißig Minuten verschieben müsste, um die Spitzenlast um ein Fünftel zu reduzieren.Mich hat es beeindruckt zu sehen, dass man auch mit kleinen Veränderungen an der richtigen Stelle viel erreichen kann“, sagt sie. Das Problem: Die Energiekosten waren für Unternehmen bisher ein zu kleiner Posten in den Gesamtausgaben. Wie sich die aktuelle Energiekrise und die steigenden Preise auswirken werden, bleibt abzuwarten. Ob die Unternehmen von sich aus umdenken und ihre Produktion auf erneuerbare Energien anpassen werden? Ludwig ist skeptisch. „Ich denke, die Politik muss Anreize setzen und Vorgaben machen.“ 

Unsicherheiten wird es in den Modellen des maschinellen Lernens immer geben, aber sie können als Grundlage für politische Entscheidungen dienen. © ELIA  SCHMID / UNIVERSITÄT TÜBINGEN

Der Algorithmus hängt von den Trainingsdaten ab

Zurzeit beschäftigt sich Ludwig vor allem mit den Wechselwirkungen zwischen Wetter, Klima und dem Energiesystem sowie mit Unsicherheiten in Vorhersagemodellen. Grob muss man sich das so vorstellen: Ein Algorithmus wird auf historischen Daten trainiert, etwa auf Energie- und Wetterdaten aus 2019 und 2020, und lernt dabei Zusammenhänge in den Daten. Dann berechnet er für ein Jahr oder mehrere in der Zukunft (z.B. 2021 oder auch 2050), wie viel Strom unter welchen Bedingungen produziert wird. Danach zieht Ludwig Bilanz: Wie gut sagt der Algorithmus die erzeugte Energie voraus? Dabei ist der Algorithmus immer nur so gut wie die Daten, mit denen er trainiert wurde. Im Fall von Energieprognosen hängt er unter anderem von Klima- und Wettermodellen ab. Das Problem: Vor allem Wettermodelle überschätzen die Sicherheit ihrer Vorhersagen, also deren Zuverlässigkeit, oft. Doch Ludwigs Team konnte zeigen: Wenn es diese Überschätzung miteinbezieht, dann sind die Vorhersagen der Modelle zur Energieerzeugung der Zukunft nicht nur präziser, sondern sie geben auch ihre eigene Unsicherheit exakter an. So können die Forschenden besser einschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass die Vorhersage des Algorithmus in der Realität tatsächlich eintreffen wird.  

Unsicherheit wird es in den Modellen immer geben

Generell ist das ein wichtiges Ziel in der Forschung zu maschinellem Lernen: Möglichst konkret benennen, wie groß die Unsicherheit der Vorhersagen von Modellen ist. Doch es ist eine knifflige Angelegenheit. Denn je weiter die algorithmenbasierten Modelle in die Zukunft blicken, desto unsicherer werden ihre Vorhersagen. Niemand weiß zum Beispiel so genau, wie sich das Wetter ändern wird, wenn Kipppunkte erreicht werden, die Permafrost-Böden aufgetaut oder die arktischen Eismassen geschmolzen sind. Es könnte mehr Stürme geben, wodurch die Turbinen häufiger abgeschaltet werden müssten.  

Unsicherheit wird es in den Modellen zur Energieversorgung der Zukunft also immer geben. „Politikerinnen und Politiker und auch Unternehmerinnen und Unternehmer zögern daher oft noch, solche algorithmenbasierten Modelle als Grundlage für ihre Entscheidungen heranzuziehen“, sagt Ludwig. Sie wollen klare, eindeutige Aussagen – und das ist für die Wissenschaft schwierig. In der nächsten Zeit will sie daher gemeinsam mit ihrer Gruppe ihr Thema verstärkt nach außen tragen und dabei auch die Unsicherheit mitkommunizieren. Dabei möchte sie auch neue, kreative Wege ausprobieren, eine Zusammenarbeit mit Kunst-Studierenden ist angedacht. Sie möchte, dass die Menschen – sowohl Bürgerinnen und Bürger als auch Entscheidungsträgerinnen und -träger – verstehen, welch großes Potential das maschinelle Lernen für die Versorgung mit erneuerbaren Energien hat. Dass grundsätzlich ein öffentliches Interesse an ihrem Forschungsfeld besteht, davon ist sie überzeugt: „Die Menschen haben gemerkt, dass ein Energienetzwerk auf Basis von erneuerbaren Energien möglich wäre. Man sollte nicht warten, bis die 1,5 Grad Erderwärmung erreicht sind.“  

Ludwig möchte ihr Forschungsthema stärker in die Öffentlichkeit hineintragen und arbeitet hierfür an einem Kunst-Projekt mit Studierenden. © ELIA  SCHMID / UNIVERSITÄT TÜBINGEN

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