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20. April 2022
Artikel von Sarah Bioly

Von Kapstadt und Khartum nach Tübingen

Unterschiedliche Perspektiven bringen die Forschung voran. Viel zu häufig wird Afrika dabei allerdings nicht mitgedacht. Mit einem Stipendienprogramm für junge Forschende soll sich das ändern. Für sechs Monate kommen fünf Talente aus afrikanischen Ländern nach Tübingen, um an Forschungsprojekten im maschinellen Lernen zu arbeiten.

Der nächste Einstein könnte aus Afrika kommen – und er könnte eine Frau sein. „Ich möchte Professorin an einer der führenden Universitäten werden“, sagt Tshenolo Thato Daumas, 30, aus Südafrika. „Ich will forschen, egal wie“, sagt Wafaa Mohammed, 24, aus dem Sudan. Wenn die beiden Studentinnen über Forschung sprechen, dann strahlen sie, als wären sie frisch verliebt. Sie sind zwei von fünf Stipendiaten, die derzeit für ein halbes Jahr an der Universität Tübingen zum Einsatz von maschinellem Lernen in der Wissenschaft arbeiten. Mit von der Partie sind außerdem Bolaji Bamiro aus Nigeria, Tatenda Emma Matika aus Simbabwe und Faisal Mohamed aus dem Sudan.

Tshenolo Thato Daumas und Wafaa Mohammed sind Anfang Februar in Deutschland gelandet. Zu dieser Zeit herrschten strenge Einreiseregeln wegen der Pandemie, es hat viel gestürmt, es war frostig am Morgen und eisig am Abend, aber das störte die beiden nicht. „Ich mochte sogar dieses Wetter“, sagt Daumas rückblickend. Bis heute sind sie und Mohammed voller Euphorie über all das Neue, das sie in Tübingen erleben.

Forschen ein halbes Jahr am Tübinger Exzellenzcluster „Maschinelles Lernen“: Wafaa Mohammed, Bolaji Bamiro, Faisal Mohamed, Tshenolo Thato Daumas und Tatenda Emma Matika (von links nach rechts). © TATENDA  MATIKA/UNIVERSITÄT TÜBINGEN

Talente finden und sie entwickeln

„Wir brauchen Programme, welche talentierte Studierende abholen, wenn sie jung und motiviert sind“, sagt Charles Lebon Mberi Kimpolo, 44, und beugt sich über seinen Schreibtisch in Kigali, Ruanda. Auf seinem T-Shirt steht neben einer Karte von Afrika „Next Einstein Forum“. Die Initiative will die Kluft zwischen der Wissenschaft in Afrika und den anderen Kontinenten überbrücken und gehört zum Afrikanischen Institut für Mathematische Wissenschaften (AIMS), einem Netz aus fünf Exzellenzzentren, an denen die Mathe-Elite Afrikas ausgebildet wird. Mberi Kimpolo sagt: „Talente findet man viele, aber ihnen fehlen Chancen und Möglichkeiten, sich zu entwickeln.“

In Afrika sind Arbeitsplätze umkämpft, die wirtschaftliche Lage hat sich durch die Corona-Pandemie verschlechtert, viele junge Menschen sind trotz Studium arbeitslos. Es fehlt an Weiterbildungsmöglichkeiten, dabei werden dringend gut ausgebildete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gebraucht. Der Klimawandel wird Afrika stark bedrohen und das Gesundheitswesen wird auch in Zukunft durch neue Krankheiten herausgefordert werden. „Wir brauchen qualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in ihrer Heimat etwas verändern wollen“, sagt Mberi Kimpolo. Für die Studierenden sucht er deshalb nach Fördermöglichkeiten, damit sie weiterkommen im Leben und ihre Leidenschaft nicht verlieren. Eine davon ist die vor Kurzem eingegangene Kooperation mit dem Exzellenzcluster „Maschinelles Lernen: Neue Perspektiven für die Wissenschaft“ an der Universität Tübingen, das Philipp Berens gemeinsam mit Ulrike von Luxburg leitet.

Die Perspektive afrikanischer Studierender ist gefragt

„Wir wollen die Perspektive von afrikanischen Studierenden in unsere Forschung integrieren“, sagt Berens. Er hatte die Idee für das Stipendienprogramm, um AIMS und den Tübinger Exzellenzcluster zu vernetzen. Im April vergangenen Jahres tauschte er sich bei einem Online-Netzwerk-Treffen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus afrikanischen Ländern aus – einer davon war Mberi Kimpolo. Als Berens ihm von seiner Idee eines Austauschs erzählte, war er sofort begeistert. Wenige Monate später waren bereits fünfzehn Personen für das Stipendium nominiert. Und Mberi Kimpolo erzählt, schon jetzt gebe es viele Interessenten für das kommende Jahr.

Cluster-Sprecher Philipp Berens hatte die Idee für das Stipendienprogramm. © ELIA SCHMID/UNIVERSITÄT TÜBINGEN

Bis mindestens 2025 soll das Stipendium einmal jährlich starten, so lange wird der Exzellenzcluster „Maschinelles Lernen“ zunächst von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Ziel des Clusters ist es, mit maschinellem Lernen wissenschaftliche Entdeckungen zu ermöglichen und zu beschleunigen. Mberi Kimpolo sagt: „Unsere Partnerschaft ist wirklich eine Win-Win-Beziehung.“ Die Expertise Afrikas bester Mathe-Talente im Tausch für die Möglichkeit, an einem Forschungscluster mit internationaler Strahlkraft zu arbeiten.

Mathematisches Knowhow und stark in der Anwendung

Mathematik ist der rote Faden, an dem sich Tshenolo Thato Daumas durchs Leben hangelt. Schon als Kind liebte sie Zahlen. Mathe heiterte sie auf, wenn sie traurig war oder sich allein fühlte, es war ihr Lieblingsfach und ihre Lieblingshausaufgabe. Mit Mathematik konnte sie Probleme lösen, da gab es keinen Raum für Interpretationen. Sie erinnert sich gut daran, wie in der High School die Lehrerin in der Prüfung einmal eine Aufgabe stellte, deren Methode die Schülerinnen und Schüler noch nicht gelernt hatten. Sie kritzelte so lange Seiten voll, bis sie eine Lösung fand. Ihre Lehrerin war tief beeindruckt.

Ab diesem Moment wusste Daumas: Mathe ist nicht nur eine Fertigkeit, für Mathe braucht man auch Talent. Und sie hat Talent. Nach einem Bachelor in Angewandter Mathematik machte sie Ihren Master am African Institute for Mathematical Sciences in Kapstadt – in Mathematik. Gerade hat sie einen weiteren Master in Angewandter Mathematik mit einer Masterarbeit in Computerbasierter Immunologie an der Universität Stellenbosch, ebenfalls in Südafrika, abgeschlossen. Während dieser Zeit war sie außerdem Teil der Forschungsgruppe für Data Science an der AIMS-Dependance in Kapstadt. „Ich weiß, wenn ich durchhalte, kann ich es schaffen“, sagt sie, wenn sie von ihrem Ziel spricht, Professorin zu werden. Berens sagt: „Durch das Stipendium werden die Studierenden auch größere Chancen auf eine internationale Promotion haben.“

Tshenolo Thato Daumas hat ihr Ziel fest im Blick. Sie möchte Professorin werden. © ELIA SCHMID/UNIVERSITÄT TÜBINGEN

In Tübingen untersucht Daumas, wie sich mehrdimensionale molekulare Zelldaten mit Ansätzen des maschinellen Lernens robust visualisieren lassen. So könnten Forschende in der Medizin und den Lebenswissenschaften leichter und zuverlässiger Hypothesen aus den Daten ableiten. Zum Beispiel könnten sie schneller erkennen, ob Zellen krankhaft werden und beginnen, sich gegen den Organismus zu richten, wie etwa bei einer Krebserkrankung. Ihr Betreuer Manfred Claassen, Professor am Universitätsklinikum Tübingen, sagt: „Wir suchen immer händeringend Mitarbeitende, die einen theoretischen mathematischen Hintergrund haben, aber auch stark auf dem Anwendungsgebiet sind.“ In Daumas hat er eine solche Kandidatin gefunden.

Die Forschung im Heimatland voranbringen

Auch Wafaa Mohammed war die Beste in ihrer Klasse. Im Sudan studierte sie an der Khartum-Universität Ingenieurwesen, anschließend machte sie in Senegal ihren Master in Maschinellem Lernen. „Das hat mir die Augen geöffnet“, sagt sie: „Ich bin immer noch fasziniert von der Idee, maschinelles Lernen für so viele Probleme einzusetzen.“ In ihrer Heimat seien viele Menschen skeptisch gegenüber der neuen Technologie. Sie sorgten sich etwa um ihre Privatsphäre. Mohammed sieht vor allem das Potenzial. Mithilfe von künstlicher Intelligenz könnte beispielsweise die Gesundheitsversorgung in Afrika verbessert werden. Laufen medizinische Aufgaben zumindest in Teilen automatisiert ab, würde das die wenigen verfügbaren Ärztinnen und Ärzte entlasten. Und je mehr Forschende in Afrika in diesem Bereich arbeiten, desto mehr Daten über die afrikanische Bevölkerung könnten diese mithilfe von maschinellem Lernen verarbeiten.

Forscht zu Echtzeit-Übersetzungen mit maschinellem Lernen: Wafaa Mohammed, hier im Gespräch mit ihrem Betreuer Hendrik Lensch. © ELIA SCHMID/UNIVERSITÄT TÜBINGEN

Das Problem: Viele afrikanische Kinder kommen gar nicht auf die Idee, dass sie Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler werden könnten, sagt Wafaa Mohammed. Sie engagiert sich deshalb in einer Gruppe, die Mädchen naturwissenschaftliche Fächer näherbringen will. Sie liebt die Arbeit mit Menschen genauso wie die Forschung. An der Universität Tübingen beschäftigt sie sich mit Echtzeit-Übersetzungen und untersucht, ob künstliche Intelligenz Wörter besser übersetzten kann, wenn sie mit Bildern verknüpft sind und wie gut das in Kombination mit mehreren Sprachen funktioniert. Am Anfang mit Englisch und Deutsch, später vielleicht mit ihrer Muttersprache Arabisch. Sie will, dass maschinelles Lernen multilingual wird.

Professor Hendrik Lensch, einer ihrer Betreuer am Tübinger Exzellenzcluster „Maschinelles Lernen: Neue Perspektiven für die Wissenschaft“, ist begeistert. „Wafaa ist eine sehr gute Studentin. Sie ist vorbereitet, selbstständig und kann mitdiskutieren. “ Ende Februar hat Mohammed mit ihrem Projekt begonnen. Die ersten losen Freundschaften konnte sie bereits knüpfen – mit Mitarbeitenden am Exzellenzcluster. Sie freut sich auf die Gespräche mit ihnen, die Forschung, die Spaziergänge raus aus Tübingen in die Natur. Sie möchte reisen, die Welt sehen, neue Erfahrungen aufsaugen. Irgendwann danach will sie genauso wie Daumas wieder zurück in ihre Heimat. Die beiden Studentinnen wollen etwas zurückgeben und ihren Beitrag zur Wissenschaft in Afrika leisten – damit ihr Kontinent für die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet sein wird.

AIMS und den Cluster miteinander zu verbinden ist eines der Ziele des Programms: Die Stipendiaten mit ihren Betreuern und Koordinatorinnen aus dem Exzellenzcluster „Maschinelles Lernen“. © ELIA SCHMID/UNIVERSITÄT TÜBINGEN

Kommentare

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