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15. Februar 2023
Artikel von Bubacarr Bah, Philipp Berens, Franca Hoffmann, Audrey Namdiero-Walsh, Wilfred Ndifon

Data Science und Maschinelles Lernen in Afrika – Entwicklungsperspektiven und Herausforderungen

Forschung im Bereich des maschinellen Lernens und den Datenwissenschaften in und aus Afrika hat das Potenzial, eine global wichtigere Rolle einzunehmen, und steht vor einzigartigen Herausforderungen. Mit seinen Graduiertenprogrammen bereitet das panafrikanische Netzwerk von AIMS (African Institute for Mathematical Sciences) junge Afrikaner*innen darauf vor, zu diesem Ziel beizutragen.

Durch den Einsatz großer Datensätze haben Machine-Learning-Algorithmen die Art und Weise, wie die globale Wirtschaft funktioniert, rasant verändert und Filmempfehlungen, selbstfahrende Autos und automatische Übersetzungsdienste ermöglicht. In ähnlicher Weise haben solche Algorithmen inzwischen auch in der Wissenschaft Einzug gehalten und lösen seit langem bestehende Probleme, wie die Vorhersage von Proteinstrukturen oder die Ableitung astronomischer Gesetze aus Beobachtungen. In der Vergangenheit sind viele technologische Entwicklungen dieser Größenordnung vor allem dem Globalen Norden [1] zugutegekommen und haben dazu beigetragen, postkoloniale Machtverhältnisse weiter aufrechtzuhalten. Gegenwärtige Entwicklungen im maschinellen Lernen und in Data Science könnten weiter zu diesem Ungleichgewicht beitragen. So werden beispielsweise große Sprachmodelle entwickelt, welche sich auf Trainingsressourcen stützen, die in vielen ressourcenbeschränkten Umgebungen unerschwinglich sind. Afrikanische Akteure müssen daher einen kostengünstigeren Weg einschlagen, um ihren eigenen Beitrag zum maschinellen Lernen (ML) zu leisten. Dies erfordert Investitionen in den Aufbau von Kapazitäten, die eine produktive Auseinandersetzung mit dem Stand der Technik des ML ermöglichen. 

In der Vergangenheit waren afrikanische Länder mit vielen Hindernissen konfrontiert, die sie davon abhielten, mit den Entwicklungen in Wissenschaft und Technik Schritt zu halten, darunter politische Instabilität, fehlende Finanzmittel und unzureichende Infrastruktur. Als in den 1970er Jahren in der Landwirtschaft des Globalen Nordens mit der Einführung automatisierter Geräte ein dramatischer Produktivitätsanstieg zu verzeichnen war, sind solche Entwicklungen in den meisten afrikanischen Volkswirtschaften nicht angekommen. Bis heute sind die meisten von ihnen auf manuelle Arbeit in der Landwirtschaft angewiesen. Diese Sicht auf Afrika insgesamt ist in der öffentlichen Wahrnehmung des Globalen Nordens immer noch vorherrschend und wird durch klischeehafte Berichterstattung und die in den täglichen Nachrichten verwendeten Bilder ständig verstärkt. 

In letzter Zeit haben mehrere afrikanische Länder begonnen, bestimmte Entwicklungsstufen gezielt zu überspringen („leapfrogging“), indem sie neue Ansätze und kreative Lösungen gefunden haben, die in einem ressourcenarmen Umfeld funktionieren, anstatt sich darauf zu konzentrieren, den industriellen Entwicklungspfad des Globalen Nordens zu imitieren. Bei den Entwicklungstrends im Bereich der Telekommunikation lagen beispielsweise viele afrikanische Länder bei der Versorgung mit Festnetzanschlüssen im Vergleich zu den weltweiten Standards zurück. Doch anstatt das Problem zu beheben, indem man überall schneller Festnetz installierte, übersprangen viele afrikanische Länder diese Zwischenstufe und konzentrierten sich auf die Mobiltechnologie. Heute sind über 50% der afrikanischen Bevölkerung mobil verbunden. So wurden neue Technologien, die auf Mobiltelefonen aufbauen, erfunden und eingeführt, wie z. B. das mobile Zahlungssystem „m-pesa“ in Kenia im Jahr 2007, welches schnell Einzug in die Wirtschaft sowohl in Afrika als auch weltweit gehalten hat. Heute ist das elektronische Zahlungssystem auch für kleine Beträge Standard und wird in über 60% aller mobilen Geldtransaktionen weltweit benutzt. Auch beim Einsatz von Drohnen für die Lieferung medizinischer Hilfsgüter und humanitäre Dienste ist Afrika weltweit führend und hat Europa und die USA bei der Nutzung von Drohnen für alltägliche Aufgaben überholt. 

AIMS-Vertreter zu Besuch in Tübingen im Mai 2022. Von links nach rechts: Der ehemalige Rektor der Universität Tübingen Bernd Engler, Franca Hoffmann, Audrey Namdiero-Walsh, Cluster-Sprecher Philipp Berens, Cluster-Geschäftsführer Tilman Gocht. © FRIEDHELM ALBRECHT / UNIVERSITY OF TÜBINGEN

Die Fähigkeit zur Innovation in diesem Umfang muss in afrikanischen Ländern systematisch gestärkt werden. Die USA, China und in jüngster Zeit auch Europa haben massiv in nationale oder supranationale Strategien für die Entwicklung künstlicher Intelligenz (KI) investiert, um ihren weltweiten technologischen Vorsprung zu sichern und weiter auszubauen und, um nicht aufeinander angewiesen zu sein. Dies verdeutlicht, dass die afrikanischen Länder politische und finanzielle Investitionen tätigen müssen, um mit den aktuellen und künftigen Entwicklungen in diesem wichtigen Bereich Schritt zu halten und möglicherweise sogar die Führung zu übernehmen. 

Selbstbestimmung ist der Schlüssel zum Erfolg

Da sich maschinelles Lernen und Datenwissenschaften rasant zu Schlüsseltechnologien für Innovationen entwickelt haben, ist auch das Interesse an der Ausbildung in maschinellem Lernen und Datenwissenschaften stark gestiegen. Angesichts der politischen und infrastrukturellen Herausforderungen, die in vielen afrikanischen Ländern bestehen, stellt sich die Frage, was sie dazu beitragen können? Insgesamt verfügt der Kontinent über zwei große Ressourcen, die Europa, den USA oder China nicht in der Form zur Verfügung stehen: seine Jugend und seine Bevölkerungsvielfalt. Heute sind 40% der afrikanischen Bevölkerung jünger als 15 Jahre und viele sind hoch motiviert zu lernen und ihr Leben durch Bildung zu verbessern.  Des Weiteren führt Afrikas ethnische und kulturelle Vielfalt zu einer großen Vielfalt an Perspektiven und Erfahrungen seiner Bevölkerung mit entsprechender Kreativität, was sich in den einzigartigen Beiträgen zu Musik, Literatur und anderen Bereichen zeigt. Es ist wichtig, einen Teil dieses kreativen Potentials durch entsprechende Ausbildung in die Wissenschaft, insbesondere in maschinelles Lernen, zu lenken. Zwar hat sich der Zugang zu Bildung in Afrika in den letzten 20 Jahren drastisch verbessert, doch die Qualität der von den Bildungssystemen angebotenen Ausbildung ist immer noch sehr unterschiedlich und liegt unter den Standards im Vergleich zum Globalen Norden.  

Heute stellen sich viele junge Afrikaner*innen diesen Herausforderungen und versuchen, sich die notwendigen Fähigkeiten im Bereich des ML selbst anzulernen, um die Probleme des Kontinents zu lösen. So gibt es beispielsweise eine Vielzahl afrikanischer Sprachen, die in der Regel nicht in großen Datensätzen enthalten sind, mit denen maschinelle Übersetzungsalgorithmen trainiert werden, und für die nur wenige geschriebene Datensätze verfügbar sind. Für Wissenschaftler*innen im Globalen Norden bleibt die Entwicklung von KI-Algorithmen, die solche Sprachen übersetzen könnten, eine Nischenanwendung. Doch in Afrika würden solche Anwendungen das Leben verändern, da sie nicht nur die Kommunikation innerhalb des Kontinents und mit der Welt erleichtern würden, sondern auch den Zugang zu vorhandenem Wissen verbessern und den Menschen in Afrika die Möglichkeit geben, eine stärkere Rolle bei der Gestaltung der digitalen Welt und Wirtschaft zu spielen. 

AIMS-Stipendiat*innen während ihres Aufenthalts in Tübingen, 2022. © ELIA SCHMID / UNIVERSITÄT TÜBINGEN

In ähnlicher Weise stehen die Probleme, mit denen sich viele afrikanische Gesundheitssysteme konfrontiert sehen, im Globalen Norden nicht an erster Stelle, da die Gesundheitssysteme in diesen Teilen der Welt vor anderen Herausforderungen stehen. Selbst wenn manche Fragen scheinbar übereinstimmen, lassen sich die im Globalen Norden entwickelten Lösungen nicht ohne weiteres auf den afrikanischen Kontinent übertragen. Dies betrifft beispielsweise den fehlenden Zugang zu klinischen Spezialist*innen in ländlichen Gebieten und die entsprechenden telemedizinischen oder KI-Lösungen. So könnten beispielsweise mobile KI-gestützte Geräte helfen, diese Zugangslücken zu schließen. Wenn diese jedoch auf der Grundlage von Daten aus dem Globalen Norden trainiert werden, bedeutet dies nicht, dass sie auch ohne Weiteres im afrikanischen Umfeld funktionieren. Ein weiteres Beispiel ist die Tatsache, dass lokales und wertvolles indigenes Wissen von entscheidender Bedeutung ist für die Eindämmung des Klimawandels, die Anpassung landwirtschaftlicher Praktiken und die Ermöglichung eines gerechten Übergangs zu umweltfreundlicher Energie. KI-Lösungen müssen in dieses vorhandene Wissen integriert werden. 

Die Rolle der Wissenschaft: Bestehende Strukturen als Ausgangspunkte

Der Erwerb von Kenntnissen im Bereich des maschinellen Lernens und den Datenwissenschaften ist bis zu einem gewissen Grad mit geringeren Hürden verbunden als bei anderen Technologien, da viele Lernressourcen im Internet frei verfügbar sind und viele Werkzeuge open-source sind. Initiativen wie das „Deep Learning Indaba“ und „Data Science Africa“ führen zahlreiche junge Afrikaner*innen in spezifische Themen und Tools des ML ein. Nichtsdestotrotz ist eine strukturierte Ausbildung in Mathematik, Statistik und Informatik erforderlich, um sicherzustellen, dass Afrikaner*innen nicht nur Konsument*innen von Wissen und Werkzeugen des maschinellen Lernens und den Datenwissenschaften bleiben, die anderswo entwickelt wurden, sondern dass sie auch führende Erfinder*innen solcher Werkzeuge werden können.  

Bubacarr Bah mit Teilnehmern bei einem Data-Workshop bei AIMS, 2019. © AIMS

Seit seiner Gründung im Jahr 2003 ist dies das Ziel des African Institute for Mathematical Sciences (AIMS). AIMS ist Afrikas erstes und größtes Netzwerk von Excellenz-Zentren für die Graduiertenausbildung in mathematischen Wissenschaften, darunter maschinelles Lernen und Datenwissenschaften. AIMS betreibt fünf Zentren in Ruanda, Südafrika, Kamerun, Senegal und Ghana und verfolgt einen panafrikanischen Ansatz, bei dem Studierende des gesamten Kontinents gemeinsam studieren. Die Aufbaustudiengänge von AIMS – wie das Doktorandenprogramm in Data Science, der über das Forschungszentrum „Quantum Leap Africa“ (QLA) angeboten wird, oder der „African Masters in Machine Intelligence“ – bieten jungen und motivierten Afrikaner*innen die Möglichkeit, das Notwendige zu lernen, um zu weiteren Entwicklungen in diesen Fachgebieten beizutragen und Herausforderungen auf dem afrikanischen Kontinent zu lösen. Der strategische Zehnjahresplan von AIMS (2022-2032) sieht eine Ausweitung der Programme vor, darunter die Einrichtung von Außenstellen, die die Zahl der Absolvent*innen innerhalb von fünf Jahren auf 700 und innerhalb von zehn Jahren auf 2000 pro Jahr erhöhen soll. Diese Absolvent*innen können dann als Multiplikator*innen in den afrikanischen Volkswirtschaften dienen und Ideen verfolgen, die zu den nächsten bahnbrechenden Innovationen führen können. Dies war auch der Gedanke hinter dem erfolgreichen, von der deutschen Regierung geförderten „German Research Chair“-Programm (Deutscher Forschungslehrstuhl), welches afrikanische Forschende dabei unterstützt, Forschungsgruppen an AIMS-Zentren zu leiten und zur forschungsorientierten Lehre beizutragen. Insbesondere wurde der Deutsche Forschungslehrstuhl „Mathematik mit Spezialisierung Datawissenschaften“ bereits 2016 berufen, um die Dringlichkeit des Aufbaus von Kapazitäten in den Datenwissenschaften zu verdeutlichen.  

Um alle Programme erfolgreich durchzuführen, hat AIMS immer internationale Professor*innen und Forscher*innen einbezogen und eingeladen, ihr Wissen und ihre Erfahrung mit jungen Afrikaner*innen zu teilen. Die AIMS-Programme bieten ihren Studierenden daher ein professionelles Kommunikationsnetz sowohl innerhalb als auch über den afrikanischen Kontinent hinaus. In diesem Sinne soll das jüngst eingerichtete Doktorandenprogramm in Data Science bei QLA junge afrikanische Doktorand*innen mit Betreuenden von afrikanischen und internationalen Universitäten vernetzen und sie bei AIMS zur Weiterbildung und Qualifizierung zusammenbringen. Diese Art des ‚Kapazitätsaufbaus‘ kann schnell einen neokolonialen Beigeschmack bekommen und funktioniert daher nur, wenn sich alle Beteiligten – von den Studierenden über die Organisationen bis hin zu den internationalen Forschern und Forscherinnen – auf einen gemeinsamen Gestaltungsprozess einlassen und gemeinsam entscheiden, was benötigt und was angeboten wird. Gleichzeitig müssen sich alle Beteiligten der potenziellen Machtungleichgewichte und der einzigartigen, exklusiven Stärken, die jede*r mit sich bringt, bewusst sein. 

Vor diesem Hintergrund haben AIMS und zwei deutsche Exzellenzcluster – „Maschinelles Lernen: Neue Perspektiven für die Wissenschaft“ in Tübingen und „Das Haussdorff-Zentrum für Mathematik“ in Bonn – neue Stipendienprogramme ins Leben gerufen. Diese Programme bieten AIMS-Absolvent*innen die Gelegenheit, in einer deutschen Forschungseinrichtung zu arbeiten, eine andere Arbeits- und Lernkultur kennenzulernen und sich in wissenschaftlicher, professioneller und persönlicher Hinsicht zu entwickeln, während sie gleichzeitig die Forschung in ihren Gastlaboren vorantreiben. Gleichzeitig bringen AIMS-Absolvent*innen ihre eigenen Perspektiven zur Lösung wissenschaftlicher Herausforderungen ein und erhöhen somit auch die Perspektivenvielfalt in den Gastlaboren. Auf deutscher Seite fordert das Stipendium Betreuende und Kolleg*innen heraus, eine globale Perspektive einzunehmen und ihre Forschungsfragen auch in den Kontext der Probleme und Herausforderungen zu stellen, die für afrikanische Länder und die afrikanische Bevölkerung von Interesse sind. 

Wilfred Ndifon bei einem Vortrag, 2016. © PRIVAT

Ausgehend von ihren individuellen Erfahrungen und den Netzwerken, die sie während des Austauschs gebildet haben, werden die Absolvent*innen der Stipendienprogramme dazu beitragen, Wissen und Kompetenzen in den Bereichen Mathematik, maschinelles Lernen und Datenwissenschaften an andere junge Afrikaner*innen weiterzugeben. Dabei werden viele AIMS-Alumni in die AIMS-Zentren zurückkehren, um als Tutoren und Tutorinnen oder Ausbilder*innen zu unterrichten. Zugleich dienen sie im Globalen Norden als Botschafter*innen des afrikanischen Kontinents und zeigen, dass er mehr zu bieten hat als das, was man üblicherweise stereotypisch mit ihm verbindet. Zudem ermöglichen sie auch deutschen Institutionen den Zugang zu einem zusätzlichen Talentpool, der in vielen Teilen der Welt nicht als solcher wahrgenommen wird. 

Aber solche zeitlich begrenzten Stipendien können nur der Anfang einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe sein, um gemeinsam globale Probleme wie den Klimawandel, Ungerechtigkeiten im Gesundheitswesen oder die geschlechtsspezifischen Vorurteile in den Datenwissenschaften und maschinellem Lernen anzugehen. Diese Probleme erfordern technische Expert*innen aus und auf beiden Kontinenten – Afrika und Europa – die als Vermittler*innen zwischen Kontinenten handeln können. Daher sollen die Partnerschaften zwischen AIMS und anderen Institutionen, wie den beiden Excellenzclustern, in Zukunft vertieft werden, um für junge und gender diverse Afrikaner*innen, denen die Zukunft ihres Kontinents am Herzen liegt, längerfristige, gemeinsame Forschungsprojekte und Karrieremöglichkeiten zu schaffen. 

[1] Unter dem globalen Norden versteht man hier die wirtschaftlich fortgeschrittenen Länder in Nordamerika, Europa, Australien, Ostasien usw.

Übersetzung ins Deutsche: Fortuna Communication

Kommentare

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